Auswirkungen von Krankheit und Behinderung stehen seit jeher im Fokus sozialmedizinischer Begutachtung. Dabei macht die Definition des Behinderungsbegriffs in § 2
SGB IX deutlich, dass Behinderung erst durch die Wechselwirkung zwischen Menschen mit Gesundheitsproblemen einerseits und einstellungs- sowie umweltbedingten Barrieren andererseits entsteht.
Um diese komplexen Wechselwirkungen systematisch zu erfassen, zu analysieren und zu bewerten, bedarf es einer strukturierten Herangehensweise. Ohne ein solch gedankliches Grundgerüst liefe die sozialmedizinische Begutachtung Gefahr, in die Beliebigkeit abzugleiten. Mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (
ICF) der
WHO steht ein international anerkanntes und wissenschaftlich etabliertes System zur Verfügung, anhand dessen die sozialmedizinische Begutachtung zu verschiedensten Leistungsbereichen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung strukturiert angegangen werden kann. Eine Codierung der Auswirkungen von Krankheit und Behinderung entsprechend der ursprünglichen Funktion der
ICF wird nicht angestrebt. Vielmehr liegt die besondere Bedeutung der
ICF in dem ihr zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modells, das einer nachvollziehbaren Analyse möglicher Leistungsvoraussetzungen und einer zielgerichteten Abgabe sozialmedizinischer Empfehlungen dient.
Folgerichtig war es erforderlich, der
ICF eine weitere Klassifikation, nämlich die der personenbezogenen Faktoren an die Seite zu stellen. Für den Einfluss von Kontextfaktoren bei der Bedarfsermittlung kann neben der Systematik der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) zu den personenbezogenen Faktoren auch der „Interviewleitfaden für die sozialmedizinische Begutachtung zur Erhebung von Kontextfaktoren“ der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste aus 2020 herangezogen werden. Ergänzend wird auf die 2021 publizierte Arbeitshilfe „Kontextfaktoren bei der Ermittlung von Teilhabebedarfen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) als Hilfestellung für die Bedarfsermittlung hingewiesen.
In der vorliegenden, mittlerweile vierten Fassung der Arbeitshilfe werden einerseits die Grundzüge der
ICF und das ihr zugrundeliegende bio-psycho-soziale Modell vorgestellt und andererseits kapitelweise die Anwendung der beiden Systematiken auf verschiedene wichtige Begutachtungssektoren aufgezeigt. Gegenüber den vorhergehenden Versionen wurde zwischenzeitlichen Entwicklungen der Gesetzgebung sowie der überarbeiteten DGSMP-Systematik zu den personenbezogenen Faktoren Rechnung getragen und sich daraus ableitender Änderungsbedarf in die jeweiligen Begutachtungsfelder übernommen. Es ist zu wünschen, dass die vorliegende Neufassung der Arbeitshilfe damit weiter zur Einheitlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Begutachtung des Medizinischen Dienstes beiträgt.
[Aus: Vorwort]